Im Frühjahr dieses Jahres hielt Reinhard Haller in St. Martin im Mühlkreis einen Vortrag über das Wesen der Kränkung. Dieser Anlass machte deutlich, wie sehr Kränkungen unseren Alltag prägen und motivierte mich, sein Buch Die Macht der Kränkung genauer zu studieren.
Kränkung ist mehr als ein flüchtiger Ärger: Sie wirkt, wie ein „Generalangriff auf das gesamte Ich“, der tiefe Spuren in Psyche und Körper hinterlässt. Haller definiert Kränkung als Dreiecks-Beziehung zwischen
1. einer kränkenden Instanz (Person oder Institution),
2. einer Botschaft der Abwertung und
3. dem Gekränkten, der diese Botschaft empfängt und verarbeitet.
Dimensionen des Gekränktwerdens
1. Selbstwertdimension
Kränkungen rühren an unserem Kern: Sie stellen das eigene Wertgefühl infrage und erschüttern das Selbstbild. Haller schreibt:
„Kränkungen treffen den Menschen in seinem Innersten, im Kern seiner Persönlichkeit.“ (S. 9)
2. Beziehungsdimension
Verletzungen geschehen fast immer im Kontext wichtiger Beziehungen. Wie Haller betont:
„Nur wer uns wichtig ist, kann uns auch wirklich kränken.“ (S. 37)
3. Interpretationsdimension
Entscheidend ist nicht allein das äußere Geschehen, sondern die innere Deutung:
„Nicht das, was gesagt wird, ist entscheidend, sondern was der Betroffene daraus macht.“ (S. 19)
4. Zeitliche Dimension
Anders als vorübergehende Affekte halten Kränkungen oft an und können in anhaltende Verbitterung münden (Kap. „Verbitterung – die unheilbare Kränkung“, S. 129–138).
5. Existenzielle Dimension
Öffentliche Demütigung kann die gesamte Lebensperspektive erschüttern (Kap. „Demütigung – die tiefste Kränkung“, S. 117).
6. Kulturelle und kollektive Dimension
Nicht nur Individuen, auch Gruppen und Nationen erleben gemeinsame Kränkungen – etwa die Kränkung des deutschen Volkes durch den Versailler Vertrag, die als Mitursache des Zweiten Weltkriegs gilt.
Dynamik und Folgen
• Psychische Folgen: Unverarbeitete Kränkungen können Depressionen, Angststörungen und suchtartige Symptome auslösen. Sie erschüttern die emotionale Stabilität und führen im Extremfall zu Selbstverletzung oder Suizid.
• Körperliche Krankheiten: Chronische Kränkungsbelastung wirkt psychosomatisch – Bluthochdruck, Magen-Darm-Störungen und Immunschwäche können folgen .
• Zwischenmenschliche Konflikte: Kränkungen vergiften Partnerschaften und Freundschaften, führen zu Rückzug, Misstrauen und aggressivem Verhalten.
• Gesellschaftliche Spaltung: Kollektive Kränkungen nähren Ressentiments, befeuern Extremismus und Gewalt. In Amokläufen oder Terrorakten spiegeln sich oft lange nicht verarbeitete Herabsetzungen .
Die Dimension der strukturellen Kränkung
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Haller in seiner psychologisch fokussierten Analyse nichtoder kaum behandelt, sind strukturelle Kränkungen. Am ehesten ist es noch der Begriff der kollektiven Kränkung, der diese Dimension benennt. Soziologisch versteht man darunter Dauermuster von Ausgrenzung, Ungleichheit und institutioneller Benachteiligung, die nicht auf individuelle Interaktionen, sondern auf gesellschaftliche Ordnungen und Machtverhältnisse zurückgehen (etwa geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung, rassistische Segregation oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse). Solche dauerhaften, „systemischen“ Verletzungen wirken oft subtiler, sind aber umso hartnäckiger, da sie in Gesetzeswerken, Organisationen und Alltagspraktiken verankert und damit schwerer sichtbar und abbaubar sind. Eine umfassende Kränkungsforschung müsste diese strukturelle Perspektive ergänzen, um das volle Spektrum menschlicher Kränkungsdynamiken zu erfassen.
Haller macht deutlich, dass Kränkungen nicht nur flüchtige Emotionen sind, sondern ein vielschichtiges Phänomen mit erheblichen psychischen, physischen und sozialen Konsequenzen. Die sechs Dimensionen – von Selbstwert über Beziehungs- und Interpretationsdimension bis hin zur kollektiven Kränkung – helfen, diese Dynamik zu verstehen. Indem wir Kränkungen bewusst machen und bearbeiten, können wir ihre zerstörerische Kraft eindämmen und Wege zu Versöhnung und persönlichem Wachstum eröffnen.