Eva Illouz setzt sich in ihrem Buch *Explosive Moderne* mit der Frage auseinander, wie sehr Gefühle gesellschaftlich geprägt sind. Sie widerspricht der verbreiteten Annahme, Gefühle seien entweder trügerische Irrtümer, die wir als Individuen überwinden müssten, oder sie seien der authentische Kern unseres Menschseins. Ihre zentrale These lautet: Gefühle sind „stilisierte Momente des Seins“, die nicht nur über uns als Individuen Auskunft geben, sondern auch über unsere Rolle als Mitglieder bestimmter sozialer Gruppen und kultureller Kontexte. Gefühle verkörpern gesellschaftliche Normen, Regeln und Strukturen und sind damit keine rein privaten inneren Zustände.
Illouz betont, dass Gefühle wie Scham, Angst oder Neid verdichteter Ausdruck sozialer Dynamiken sind. Schon C. G. Jung analysierte Emotionen als spontane Urteile unserer Psyche über soziale Gegebenheiten und Widerfahrnissen. Emotionen entstehen nicht im isolierten Inneren des Individuums, sondern an der Schnittstelle zwischen Personen, sozialen Strukturen und kulturellen Codes. Durch Gefühle internalisieren wir gesellschaftliche Normen und externalisieren gleichzeitig unsere inneren Welten.
Diese Perspektive widerspricht stark dem in der populären Psychologie verbreiteten Bild, dass psychisches Leiden vor allem eine Frage der individuellen Verantwortung und Selbstoptimierung sei. Im Gegenteil: Gefühle sind geprägt durch Mechanismen wie Konsumgesellschaft, ökonomische Ungleichheit, Geschlechterrollen, Wettbewerb und politische Institutionen. Illouz kritisiert, dass Psychologie und Selbsthilfekultur diese gesellschaftlichen Ursachen oft unsichtbar machen und stattdessen das Individuum zum „Reparaturbetrieb“ seiner eigenen Wunden erklären.
Im Kapitel über die Furcht zeigt Illouz, wie sehr dieses Gefühl politisch und sozial aufgeladen ist. Historisch galt Furcht bspw. in heroischen Kulturen als schändlich; Soldaten, die Angst zeigten, galten als unmännlich. Diese kulturellen Prägungen wirken bis heute nach, etwa wenn traumatisierte Soldaten aus Angst vor Stigmatisierung keine Hilfe suchen. Gleichzeitig wird Furcht in autoritären Regimen gezielt als Herrschaftsmittel eingesetzt, wie schon Hobbes feststellte: Furcht ist der Ursprung allen Rechts.
Die Dialektik von Sicherheits- und Furchtgenerierung in der Moderne
In liberalen Demokratien gilt zwar das Ideal, Furcht zu minimieren, doch gerade hier werden paradoxerweise immer neue Ängste produziert. Um Sicherheit zu garantieren, müssen immer mehr Bedrohungen benannt und erkannt werden. Diese Dynamik steigert aber die Angst vor möglichen Bedrohungsszenarien. Das politische Benennen von inneren oder äußeren Feinden, oder die Wahrnehmung globaler Risiken wie Pandemien oder Klimakatastrophen fördern eher unsere gesellschaftlichen Angstzustände, als dass sie sie minimieren. „Während Moderne und Demokratie versprechen, für mehr Sicherheit zu sorgen, bringt dieses Versprechen eine wachsende Palette an Ängsten mit sich, die zu einem unauffällig mitlaufenden Hintergrund zeitgenössischer Gesellschaften werden … Die Politik der Furcht sucht die liberalen Demokratien von innen heim und ist zu ihrem Hausgespenst geworden.“ (S. 230) Rechte Bewegungen profitieren besonders von diesem Mechanismus, weil sie mit klaren Feindbildern und einfachen Sicherheitsversprechen arbeiten.
Illouz verweist auch auf Horkheimer und Adorno, die sagten, dass die Aufklärung angetreten war, um die Furcht zu besiegen – doch in der Moderne hat sich diese Logik umgekehrt: Der Versuch, maximale Sicherheit herzustellen, hat Ängste nicht beseitigt, sondern in ein ständiges Hintergrundrauschen verwandelt. Die liberale Demokratie lebt so in einer ständigen Spannung zwischen dem Ideal der Freiheit und der Bereitschaft, diese Freiheit im Namen der Sicherheit zu opfern.
Die therapeutische Behandlung der Angst und ihre Grenzen
Auch die systemische Psychotherapie betrachtet Gefühle nicht isoliert, sondern immer im Kontext sozialer Beziehungen, Kommunikationsmuster und Zugehörigkeiten. Sie sieht Menschen als eingebettet in Systeme – Familie, Partnerschaft, Arbeit, Kultur – und versteht psychisches Leiden oft als Ausdruck gestörter oder belastender Beziehungs- und Bedeutungsmuster.
Gerade bei Gefühlen wie Angst, Scham oder Schuld, die Illouz als stark gesellschaftlich geprägt beschreibt, kann die systemische Perspektive hilfreich sein: Sie hilft, die Problemdefinition vom rein Innerlichen ins Zwischenmenschliche zu verschieben. Sie fragt nicht: „Was stimmt mit dir nicht?“, sondern: „In welchen Beziehungsmustern, Erwartungen, Loyalitäten stehst du? Welche kulturellen und sozialen Botschaften prägen deine Gefühle?“ Sie arbeitet mit Reflexion: Welche gesellschaftlichen Normen hast du übernommen, welche Narrative leiten dein Erleben? Sie stärkt die Autonomie, indem sie Klient:innen ermöglicht, die eigenen Gefühle in ihrer kontextbezogenen und sozialen Prägung wahrzunehmen und zu verstehen.
Aber es gibt auch klare Grenzen: Die systemische Therapie kann zwar helfen, gesellschaftliche Muster und deren Auswirkungen auf die Psyche sichtbar zu machen, sie kann diese Strukturen aber nicht abschaffen. Sie kann politische Ungleichheiten, kapitalistische Konsumlogiken oder strukturelle Diskriminierung nicht direkt verändern. Sie arbeitet auf der Ebene des subjektiven Erlebens und der individuellen Handlungsspielräume, nicht auf der Ebene gesellschaftlicher Reform. Schließlich kann auch die systemische Perspektive in die Falle geraten, den „richtigen Umgang“ mit Gefühlen zu fokussieren, statt anzuerkennen, dass manche Gefühle (z. B. Angst vor realen Bedrohungen oder Zorn über gesellschaftliche Ungerechtigkeiten) nicht nur bearbeitet, sondern politisch adressiert werden müssen.