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Scham und Stolz – Gedanken aus dem Buch „Explosive Moderne“ von Eva Illouz

Scham als soziales Gefühl
Scham ist ein grundlegendes soziales Gefühl, das entsteht, wenn wir uns durch die Augen anderer sehen. Jean-Paul Sartre beschreibt dies so: „Scham ist das Erleben, ein Objekt für einen anderen zu sein“ (S. 45). Dieses Gefühl geht tiefer als Schuld, weil es nicht nur um eine konkrete Tat, sondern um das eigene Sein geht. Scham bedeutet, sich selbst als mangelhaft zu empfinden, weil man glaubt, den Erwartungen anderer nicht zu entsprechen.

Öffentliche Beschämung
Historisch gesehen war öffentliche Beschämung ein zentrales Mittel sozialer Kontrolle. Ein bekanntes Beispiel ist Nathaniel Hawthornes Roman „Der scharlachrote Buchstabe“, in dem die Hauptfigur Hester Prynne gezwungen wird, einen roten Buchstaben „A“ für „Adulteress“ (Ehebrecherin) zu tragen: „Der scharlachrote Buchstabe brannte sich nicht nur in ihr Kleid, sondern in ihre Identität ein“ (S. 53). Ihre Schuld wird öffentlich ausgestellt, und ihre Person wird auf das Zeichen der Schande reduziert.
Auch in Victor Hugos „Les Misérables“ erleben wir eine ähnliche Dynamik: Jean Valjeanwird als Sträfling markiert und trotz seiner Reue immer wieder gesellschaftlich ausgeschlossen. Diese literarischen Beispiele zeigen, wie gesellschaftliche Normen Menschen dauerhaft stigmatisieren können.
In der Gegenwart wirken ähnliche Mechanismen über soziale Medien: Online-Shaming, Doxxing und Cybermobbing führen dazu, dass private Fehler öffentlich werden und Betroffene dauerhaft mit Schande leben müssen.

Scham als politische Waffe und Mittel sozialer Disziplinierung
Scham wird nicht nur individuell, sondern politisch eingesetzt. „Scham ist eine Waffe, die Mächtige gegen Abweichende richten“ (S. 61). Sie trifft besonders marginalisierte Gruppen – Frauen, Juden, Schwarze, queere Menschen – die oft gezielt beschämt werden, um sie zur Anpassung zu zwingen. Gesellschaftliche Normen werden so durchgesetzt, indem Abweichung mit sozialer Ächtung bestraft wird.

Stolz als Gegengewicht zur Scham
Politische Bewegungen haben Wege gefunden, Scham zu überwinden, indem sie sie in Stolz verwandeln. „Pride bedeutet, aus der Scham herauszutreten und den eigenen Platz in der Gesellschaft einzufordern“ (S. 72). Die LGBTQ+-Bewegung etwa nutzt Pride-Paraden, um sichtbar zu sein und sich nicht länger für ihre Identität zu schämen. Auch feministische Bewegungen kämpfen darum, dass Frauen ihren Körper und ihre Sexualität selbstbewusst annehmen können, statt sie als Quelle von Scham zu empfinden.

Gefährliche Formen von Stolz
Nicht jeder Stolz ist heilend. „Wenn Stolz auf Kosten anderer geht, wird er zu einem Werkzeug der Unterdrückung“ (S. 79). Beispiele dafür sind nationaler Stolz, der in Chauvinismus umschlägt, religiöser Fundamentalismus oder kulturelle Überlegenheitsgefühle. In Literatur und Geschichte finden sich zahlreiche Beispiele: etwa in George Orwells „1984“, wo der Stolz auf die eigene Partei die Basis für Unterdrückung bildet, oder in nationalistischen Bewegungen, die Minderheiten abwerten, um die eigene Identität zu stärken.

Psychologische Perspektiven
Heinz Kohut und José Brunner unterscheiden zwischen narzisstischem Stolz und gesundem, stillem Stolz. „Stillen Stolz erkennt man daran, dass er ohne Zuschauer auskommt“ (S. 85). Während narzisstischer Stolz sich immer im Spiegel anderer bestätigt, ist gesunder Stolz verbunden mit der Fähigkeit, die eigene Endlichkeit und Verletzlichkeit anzunehmen. Ein literarisches Beispiel wäre Tolstois „Iwan Iljitsch“, der am Ende seines Lebens lernt, sich selbst anzunehmen, ohne auf gesellschaftliche Anerkennung angewiesen zu sein.

Zusammenhang von Scham, Schweigen und Kontrolle
Scham löst eine Spirale des Schweigens aus: „Das Schweigen ist der Bruder der Scham, und nur gemeinsames Sprechen kann es brechen“ (S. 91). Politische und soziale Bewegungen betonen deshalb die Bedeutung von Öffentlichkeit und gemeinsamer Sprache, um diese Kette zu durchbrechen. Literatur wie Elfriede Jelineks „Die Klavierspielerin“ zeigt, wie tödlich Schweigen sein kann, wenn es individuelle Schamgefühle verstärkt und Menschen isoliert.

Scham, Stolz und moderne Gesellschaft
In der heutigen Gesellschaft, die stark auf Image, Erfolg und Individualität setzt, hat Beschämung enorme Macht. „Wir leben in einer Kultur, in der moralische Reinheit verlangt, aber kaum definiert wird“ (S. 97). Die Empörungskultur in sozialen Medien führt zu einer inflationären Anwendung von moralischen Maßstäben, die oft willkürlich erscheinen. Die zentrale Botschaft des Textes lautet, dass Scham und Stolz nicht nur private, sondern zutiefst politische und gesellschaftliche Werkzeuge sind. Wir müssen reflektieren, wann sie heilend und wann sie destruktiv wirken.

Familientherapeutische und systemische Dimension
Die Entstehung des Selbstwertgefühls ist ein zentraler Aspekt in der familientherapeutischen und systemischen Betrachtung von Scham und Stolz. Schon früh wird unser Selbstbild geprägt – vor allem durch das soziale System Familie. Hier lernen wir, ob wir mit unseren Wünschen und Bedürfnissen angenommen werden oder ob wir Ablehnung, Abwertung oder gar Beschämung erfahren.

Wenn Kinder in ihrer Familie oder auch in der Schule oder unter Freunden öffentliche Bloßstellung erleben, wird ihr Selbstwert fundamental erschüttert. Umgekehrt stärkt es das Selbstwertgefühl, wenn ihnen etwas zugetraut wird, sie Wertschätzung erfahren und mit Respekt behandelt werden. Diese frühen Erfahrungen legen den Grundstein für den Umgang mit sich selbst – ob jemand Selbstvertrauen entwickelt oder sich selbst kleinmacht.

Virginia Satir, eine der bedeutendsten Familientherapeutinnen, stellte das Thema Selbstwert ins Zentrum ihrer Arbeit. Für Satir ist das Gefühl, wertvoll und liebenswert zu sein, die Basis für gesunde Beziehungen und individuelles Wachstum. Wenn Kinder Scham, Ablehnung oder Vernachlässigung erleben, kann dies zu einem dauerhaften inneren Gefühl der Unzulänglichkeit führen. Wird dieses nicht bewusst bearbeitet, entsteht oft eine Dynamik von Verdrängung: Negative Erfahrungen werden aus dem Bewusstsein geschoben oder durch übermäßige Kompensation ausgeglichen.

Eine mögliche Folge ist gesteigertes narzisstisches Auftreten: Überhöhter Stolz, der nicht aus innerer Stärke, sondern aus Unsicherheit gespeist wird. Menschen, die sich innerlich klein fühlen, entwickeln manchmal übersteigerte Selbstdarstellungen, um ihre verletzliche Seite zu schützen. In der systemischen Therapie wird dies als Symptom verstanden, das auf ungelöste familiäre und soziale Prägungen hinweist.

Familientherapeutisch bedeutet das: Es reicht nicht, nur das aktuelle Verhalten zu betrachten. Viel wichtiger ist es, gemeinsam mit den Betroffenen auf die frühen Beziehungserfahrungen zu schauen: Welche Botschaften habe ich über mich selbst mitgenommen? Wurde mir vermittelt, dass ich genüge? Oder war ich oft beschämt, herabgesetzt, übersehen? Ziel ist es, die Muster zu erkennen, die aus der Vergangenheit stammen, und neue, stärkende Erfahrungen zu ermöglichen.

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