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Zusammenfassung: Andreas Reckwitz – Verlust. Ein Grundproblem der Moderne

Einleitung
Andreas Reckwitz untersucht in seinem Buch, wie die Moderne mit dem Thema Verlust umgeht. Während Begriffe wie „Fortschritt“, „Entwicklung“ oder „Revolution“ seit der Sattelzeit (1750–1850) zentrale Leitbilder der westlichen Moderne geworden sind, wurde das Thema Verlust in der Soziologie bisher kaum systematisch behandelt. Reckwitz diagnostiziert einen tiefen Widerspruch: Die Moderne sieht sich als fortschrittsorientiert, doch reale Verlusterfahrungen widersprechen diesem Fortschrittsnarrativ fundamental. Verlust hat im Fortschrittsdenken keinen anerkannten Ort – stattdessen gibt es ein paradoxes Verhältnis: Fortschritt soll Verluste reduzieren, erzeugt aber zugleich ständig neue.

Teil 1: Was sind und wie wirken Verluste?
Verlusterfahrungen betreffen zentrale Lebensbereiche: Tod, Heimat, Status, Kontrolle oder auch die Furcht vor Regression. Verluste erhalten ihre Bedeutung im sozialen Kontext, sind in Praktiken, Diskurse und Emotionen eingebettet. Voraussetzung für Verlusterfahrungen sind starke emotionale Bindungen, die als zentrale Orientierungspunkte für Identität und Selbstinterpretation wirken. Verluste sind gekennzeichnet durch Irreversibilität, Unverfügbarkeit und die Relevanz für die Identität von Individuen oder Gruppen. Emotionen wie Trauer, Angst oder Wut sind keine rein inneren Zustände, sondern Teil sozialer, affektiver Praktiken („doing emotion“). In Verlustarenen wird öffentlich ausgehandelt, was als Verlust sichtbar gemacht wird – und was unsichtbar bleibt.

Teil 2: Die Verlustparadoxie der Moderne
Der Fortschrittsimperativ, der Institutionen, Ökonomie, Politik und Subjektivität prägt, erzeugt einen Widerspruch: Einerseits gibt es das Ziel der Verlustvermeidung und Leidensminderung (etwa durch Medizin, Technik, Recht). Andererseits steigert der ständige Innovations- und Wachstumsdruck die Zahl und Intensität erlebter Verluste: durch sozialen Wandel, Wettbewerb, Obsoleszenz, Singularisierungsprozesse und die Emotionalisierung persönlicher Beziehungen. Der Tod wird in der Moderne besonders verdrängt, weil er den Fortschrittsglauben radikal infrage stellt. Modernisierung bedeutet daher auch eine permanente Reproduktion von Gewinnern und Verlierern, von Verlustängsten und Verlustempfindlichkeiten. Populistische Bewegungen arbeiten mit Verlustnarrativen und Verlustaffekten, indem sie Schuldige für Verluste benennen und eine „Rache an den Gewinnern“ inszenieren.

Was bedeuten Reckwitz’ Ausführungen für die Praxis der Psychotherapie?
Reckwitz’ Diagnose einer „Verlustparadoxie“ liefert wichtige Impulse für die psychotherapeutische Praxis: Viele Klient:innen bringen Verlusterfahrungen oder Verlustängste mit – oft auch unausgesprochen. Reckwitz zeigt, dass diese Erfahrungen keine rein individuellen Probleme sind, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Dynamiken. Psychotherapeut:innen können Klient:innen helfen, diese Erfahrungen nicht als persönliches Versagen zu deuten, sondern als Teil größerer kultureller Muster. Psychotherapie kann hier als Gegenort wirken, wo Verlust betrauert, benannt und verarbeitet werden darf. Gerade bei unverarbeiteten Verlusten liegt eine zentrale Aufgabe der Therapie darin, dem Verlust einen Platz zu geben. Da Identität stark von sozialen Bindungen und deren Bruch geprägt ist, können narrative Verfahren helfen, Verluste in eine kohärente Selbstinterpretation einzubetten. Psychotherapie kann Klient:innen darin unterstützen, eine Geschichte zu entwickeln, die Verlust integriert, ohne das Selbstwertgefühl zu zerstören. Viele Klient:innen leiden unter einem inneren Drang nach ständiger Verbesserung und Optimierung – was Verlusterfahrungen verschärfen kann. Therapeut:innen können helfen, diesen inneren Fortschrittsdruck zu reflektieren und alternative Werte zu entwickeln, die auch Stagnation, Scheitern oder Abschied akzeptieren. Schließlich können Verlustängste oft als systemisch betrachtet werden: Nicht jede Angst vor Verlust ist pathologisch; viele entspringen realen, gesellschaftlichen Spannungen. Ein systemisches Verständnis kann helfen, Symptome nicht nur auf die Person zurückzuführen, sondern auch deren sozialen Kontext zu berücksichtigen.

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